Herkreetz-Vertikale

20 Jahre Herkreetz GG

Ich hatte nach sieben Monaten in Südeuropa kaum eine Stunde deutschen Boden unter den Füßen (besser Rädern), als ich in Siefersheim einkehren durfte, um bei Daniel Wagner einer spektakulären Verkostung beizuwohnen.

30 Jahre Weingut Wagner-Stempel und 20 Jahre Großes Gewächs aus dem Heerkretz waren der Anlass. Dazu hatte Wagner ein paar Freunde geladen, die ebenfalls vertikalen spannender Weine im Gepäck hatten.

Die ideale Verkostungsreihenfolge

Catering Wagner Stempel
Gutes Essen gab es natürlich auch

Eine der ewigen Fragen bei so großartigen Verkostung wie 20 Jahre Heerkretz ist: In welcher Reihenfolge soll man die Weine verkosten? Von alt nach jung oder von jung nach alt? Es gibt keine verbindliche Regel. Das Ziel der Verkostung ist der wesentliche Faktor für diese Entscheidung. Mit zunehmender Verkostungsdauer lässt die Empfindlichkeit des Gaumens nach. Deswegen ist es häufig sinnvoll, mit den älteren Jahrgängen anzufangen, denn im Allgemeinen attestiert man älteren Weinen, dass sie leiser sind. Nach dem Motto je tauber die Ohren, desto lauter das Geschrei, hält man dann die jüngeren Weine für den späteren Verkostungszeitraum vor.

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Allerdings ermüden zwanzig Weine noch nicht wirklich. Und man sagt Weinen nach, dass sie mit zunehmender Reife das Korsett der Machart abstreifen und den Kern ihrer Herkunft zeigen. Ist diese Herkunft unbekannt – also der Geschmack, den diese Herkunft hervorruft – dann ist es sinnvoll, die Weine, die diese Ausprägung am wenigsten haben, an den Anfang zu stellen und mit fortschreitender Verkostung immer tiefer in die geschmackliche Welt der Lage einzudringen. Es ist kontraproduktiv, einem Geschmack hinterherzuspüren, der immer dezenter und von immer mehr Jungweinaromen überdeckt wird. Da ich kein Experte in Sachen Heerkretz bin, entschied ich mich also für die Reihenfolge von jung nach alt. 

Ich hatte auch schon eine Verkostung aus einer Anlage, die seit zehn Jahren im Ertrag war und bei der der Winzer zeigen wollte, wie sich die Weine mit dem Alter der Reben veränderten. Ein andern Mal wollte ein Winzer seine eigene Historie im Umgang mit einer Lage diskutieren, quasi ‚wie ich lernte, den Berg zu verstehen’. In solchen Fällen ist die umgekehrte Reihenfolge sinnvoller.

21 Jahrgänge Herkreetz GG

Doch zurück zum Heerkretz, von jung nach alt, Kurzprobe im Stehen, aber ohne jeden Zeitdruck.

2022 (7,1 g/l Säure; 3,9 g/l Restzucker; 12,5 % Alk.)
In der Nase frisch, fruchtig, mit nur etwas Hefe, vorwiegend klar. Am Gaumen wirkt die Säure gerade sehr mild, der Wein sehr stoffig, fest, eher trocken. Die Frucht ist verschlossen, leicht wachsig, aber enorm tief. Ich glaube an eine große Zukunft. In Wiesbaden zwei Tage später zeigte sich der Wein offener und fast trinkreif, da war die Flasche vermutlich deutlich länger offen.

2021 (8,1; 3,6; 13)
Eine ziemlich süße Nase mit viel reifer Aprikose macht richtig Lust auf einen Wein, der mit seiner kräftigen Säure zubeißt, mit ausreichend Zucker und viel (am Gaumen nicht ganz so reifer) Frucht puffert, derzeit kaum Phenolik zeigt, die aber auch gar nicht braucht, weil die tolle Säure durch den ewigen Abgang vibriert. Noch viel Potential. Fantastisch.

2020 (6,1; 3,3; 13)
Etwas Aprikose, etwas Aloe Vera, nur minimale Reifenoten in der erstaunlich frischen Nase. Nie vorschnell von Analysewerten auf den Wein schließen: Die Säure trägt den Wein sehr beschwingt, er schmeckt besonders trocken. Erste Zeichen von Reife auch am Gaumen, die Frucht ist aber angenehm frisch, der Wein enorm lebendig und elegant. Ganz besonders gut.

2019 (7,5; 4,1; 13)
Riecht nach einem eher warmen Jahr, üppig, Honig, Malz und leckerschmecker. Am Gaumen erst harmonisch rund, zum Finale hin finde ich die Säure dann etwas spitz. Leicht üppig, etwas Malz, insgesamt vor allem lecker, das kann die Kurve zu mehr Eleganz aber sicher noch kriegen. Gesetzt ist das aber nicht.

2018 (7,5; 1,3; 13)
Die Nase ist tatsächlich etwas frischer als die des 2019ers. Am Gaumen schöne Säure, keine Hitzenoten wie Malz oder Karamell, aber aromatisch insgesamt ziemlich geizig. Where is the beef? Andererseits ist das einer der wenigen 18er, die nicht so wirken, als bögen sie schon auf die Zielgerade ein. Ich muss ja nicht zu jedem Wein ein finales Urteil abgeben.

2017 (8,4; 2,3; 13)
Das erste Mal heute, dass mir das Wort blumig einfällt. Dazu ist die Nase leicht zitrisch. Am Gaumen finde ich dann die Substanz, die mir beim 18er möglicherweise fehlte. Fein auffächernde Aromatik von Frucht und Kräutern, getragen von Säure, alles eher leise und auch noch etwas verschlossen. Hätte ich den Wein, ich wartete wohl noch zwei Jahre. Ganz toll.

2016 (8,1; 3,3; 13)
In der Nase ein ganz bisschen mürbe, ein paar Alterstöne, insgesamt aber eine eher frische Frucht. Am Gaumen kräftige Säure, gepuffert von wenig Zucker, eher von Schmelz und Frucht: Apfel, Aprikose, Zitrus, dazu ein paar Kräuter, eher leise und elegant. Im Abgang steht erstmals Phenolik im Vordergrund und ein zartes Bittertönchen. Stark!

2015 (8,4; 4,1; 13)
Die Nase ist etwas wärmer und etwas reifer als 2016, hier auch etwas Malz und ein Eindruck von einem warmen Jahr. Am Gaumen dann aber nur ein bisschen üppiger, deutliche, leicht cremige Reifenoten, die aber stimmig wirken. Bei aller Intensität hält die satte Frucht die Balance dank toller Säure. Das ist schon fantastisch und einer der besten 2015er, die mir in den Sinn kommen.

2014 (7,9; 6,2; 13)
Eher warme Nase, reif, etwas gemüsig. Am Gaumen lecker, in diesem Kontext süß, hat nicht die Substanz des 15ers, ist aber aller Ehren wert. Milde Würze auf reifer Aprikose, mittlerer Druck, ordentliche Länge.

2013 (8,6; 5,2; 13)
Die Nase ist süß, reif und dezent würzig. Der Gaumen startet richtig straff und saftig, bevor deutliche Reifetöne übernehmen (Wachs und Marzipan), was aber aufgrund dieses straffen Starts kein bisschen plump oder ältlich wirkt. Im Gegenteil, ein Wein im besten Alter. Groß.

2012 (7,6; 5,5; 13)
Finde ich etwas müde in der Nase: Nasse Pappe legt sich über reife Aprikose. Am Gaumen deutlich cremige Reifenoten, weiche Frucht in Richtung gekochtes Steinobst, schöne Säure, noch ausreichende Frische, aber etwas brandig im Abgang. Sehr ordentlich

2011 (6,4; 5,5; 13)
Ja, das ist analytisch üppig – die Nase eher würzig mit etwas Zimt, die Frucht und Reifenoten druckvoll – und kann das heiße 2011 nicht völlig leugnen, aber wie straff das hier bei aller cremigen Opulenz am Gaumen spielt und wie frisch das bei aller Reife noch meine Sinne animiert, das beeindruckt mich zutiefst. Toller Stoff.

2010 (9,4; 7,2; 12,5)
Ich mag das Jahr genau wie 2003 nicht mehr diskutieren. Ich würde mich nicht trauen, den Wein runterzuschlucken, weil mein Magen sofort rebellieren würde, trotz warmer, üppig gereifter Nase, dem Dörrobst, ja sogar nussigen Noten, liegt die Wahrheit bei 2010 eben nicht im Glas, sondern in der Magenschleimhaut. Wer da keine Probleme mit hat, dem sei dieser Wein anempfohlen, er (oder sie) wird ihn granatenstark finden.

2009 (6,6; 5,3; 13)
Die Nase ist ebenfalls reif und warm, aber einladender, ein wenig wollüstig. Auch am Gaumen eher Kaminwein als für die Tafel, zu massiver Opulenz gereift, aber sehr diesseitig, einladend, schwelgerisch, große Oper aus reifer Frucht, Würze, Druck und Schmelz. Muss man mögen, ich mag das.

2008 (7,1; 7,1; 12,5)
Auf einmal wird es wieder frisch, die Nase knüpft eher an 2013 an, wobei ganz tief verbuddelt deutliche Reifetöne schlummern. Der Gaumen hält dann nicht, was die Nase verspricht. Ausreichend Säure ist da, nicht aber genug Substanz, um den Zucker zu puffern. Das startet leise und komplex und wird dann übertüncht. Das ist aber Jammern auf hohem Niveau und der Wein sehr ordentlich. 

2007 (7,2; 8,7; 13)

In der Nase gibt es das, was man jetzt von einem 2007er aus Rheinhessen erwartet: würzig, sehr reife Aprikose, Malz und als Bonus etwas Muskat. Am Gaumen gibt es nicht ganz das, was man erwartet, weil der Wein frischer wirkt, stoffig und dann schlägt der Zucker nicht so gnadenlos zu. Trotzdem finde ich das gefühlt halbtrocken, aber ein exotischer Fruchtkorb kann das ab, vor allem wenn – wie hier – die Säure stimmt. Hat Struktur, mag ich sehr.

2006 (7,1; 9; 13)
‚Kleinster Jahrgang. Unverkennbare Frucht mit harmonischer Säure.‘ Mehr als diese sieben Worte sind auch Daniel Wagner nicht zu diesem Jahrgang eingefallen. In der Nase sehr reif, aber nicht firn, am Gaumen nicht völlig tot.

2005 (6,5; 8,5; 13,5)
In der Nase wird es erstaunlicherweise wieder frischer, am Gaumen dann ein ganz eigener Typ Wein: Deutliche Würze-, sogar ein paar Röstnoten, die der Frucht den Rang ablaufen, die Reifearomen wirken nicht cremig, weswegen auch die eher verhaltene Säure noch zu beissen vermag. Viel Zucker und Alkohol, aber so unanstrengend, spielerisch und trotzdem schwelgerisch, dass ich das einfach runterschlucken muss. Und nach dem langen Abgang trinke ich auch den zweiten Schluck noch aus. 

2004 (8,5; 10,4; 12,5)
In der Nase erst herb-frisch und dann erst würzige Reife. Am Gaumen schönes Spiel, den Zuckerwert errät kein Mensch, viel trockener anmutend, wunderbare Frucht, sehr elegant und leise. Ganz anderer Wein als die anderen Weine aus den Nullerjahren. 2004 ist schon ein besonderes Jahr …

2003 (5,7; 7,4 13)
Die Nase ist etwas verhalten und etwas spritig, der Gaumen ist sehr cremig. Vollreif, wenig Säure, etwas flach und etwas bitter, aber nicht schlecht.

2002 (9,5; 7,7; 12,5)
Die Nase möchte ich mal als typische Nase eines zwanzig Jahre gereiften Rieslings bezeichnen, wer will mir da auch schon widersprechen 😉 Am Gaumen heftige Säure, noch schöne Frucht, nicht so viel Substanz, dass da noch was kommt, aber in Würde zwanzig Jahre gereift. Darf man jetzt mit Vergnügen austrinken.

Was lernen wir daraus?

Fazit. Bin ich jetzt Heerkretz-Experte? Nein. Hat die Lage einen klaren, charakteristischen Geschmack, der es mir künftig ermöglicht, in Blindproben einen Heerkretz zu erkennen, wenn ich ihn treffe? Nein. Also, alles Quatsch? Nein, eher sogar doppelnein. Einmal drüber schlafen und dann die Notizen sortieren. Alles noch mal Revue passieren lassen. Bedeutende Entdeckung: 21 Verkostungsnotizen, ein Mal (!) das Wort saftig. Die Lage ergibt eher strukturierte als saftige Weine, die Säure übernimmt immer (eine Ausnahme) sofort den Taktstock. 21 Verkostungsnotizen, ein Mal (!!!) abgehoben auf die Phenolik. Phenolik und Lage ist ein kompliziertes Thema, weil die enorm phenolische Rebsorte Riesling ja nur mal kurz auf der Maische warten muss, bis die Presse frei ist und schon ist die Phenolik da. Aber wenn beim Top-Wein, dem immer höchste Priorität eingeräumt wird, ein so wenig auf die Eigenschaften ‚griffig‘ oder ‚sperrig‘ abzielender Wein rauskommt, brauche ich nicht nur einen Winzer, der das so will, sondern auch eine Lage, die die Trauben für den Plan liefert. Für mich die schönste Überraschung war, dass ich, der endlos auf schmirgeligen Riesling steht, bei dieser Verkostung nichts vermisst habe.

Herkreetz, so nehme ich das aus dieser Verkostung mit, ist eine Lage, die zumindest unter Daniel Wagners Regie einen Riesling hervorbringt, der auf ganz besondere Art Frucht und Säure als Motor nutzt, der nichts anderes braucht, um Komplexität zu erzeugen, für die andere Weine vielleicht noch Phenolik brauchen. Über die Lernkurve bezüglich Restzucker und Klimawandel anhand einer solchen Verkostung erzähle ich irgendwann mal was im Podcast. Diese Vertikale war den Umweg in vielerlei Hinsicht wert.

Wittmann Brunnenhäuschen

Und als kleine Kirsche auf der Torte gab es ja noch Weine von Freunden: Wittmann, Bischel, Rings und Battenfeld-Spanier. Und die gibt es auch hier nur für Freunde. Wer also lesen will, welchem Wein ich spontan Hundert Punkte geben wollte, der sollte Freund werden.

Den Anfang meiner weiteren Verkostung machte Wittmann mit fünf Brunnenhäuschen GG.

2021
In der Nase blumig, dazu Aprikose; am Gaumen zischt das ganze erst mal mit toller Säure, dreht dann ins Cremige, wird weich, schmecke ich da Vanille? Auf jeden Fall ein spannender Kontrast und interessante Reise durch den Gaumen.

2019
In der Nase nur unwesentlich gereifter; am Gaumen genau so zackige Säure, dann kickt etwas Süße rein und wir sind bei #40 vom Chinesen (einmal Hühnchen süß-sauer, Bitte), bevor phenolisches Potenzial den Abgang rettet. Das ist durchaus vielversprechend, aber im Moment bitte: Finger weg!

2016
In der Nase ein betörender Mix aus Frische und erster Reife. Am Gaumen geht das weiter: Zitrus und Aprikose noch ohne Patina, dann etwas Würze und fein-cremige Reifenoten, viel steinig anmutende Phenolik. Irre gut!

2013
Sie können mich nachts um zwei we…

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