Die Wahrheit über Kloster Eberbach

Ich habe das Hessische Staatsweingut Kloster Eberbach besucht und Geschichte verkostet. Und Geschichten gelauscht. Warum also nicht einfach eine Geschichte schreiben…

‚Das ist jetzt eine Partie aus dem Zehntstück, die wir nach der Gärung in den Edelstahl umgezogen haben‘ – Kathrin Puff schaut mich erwartungsvoll an. ‚Wieder Zitrus, aber etwas breitschultriger‘ beantworte ich die im Raum stehende Prüfungsfrage.

Kathrin Puff
Kathrin Puff zapft Muster

Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass für mich Hoffnung besteht. Ich habe gerade einen Crash-Kurs absolviert. Im Schweinsgalopp durch den riesigen Steinberg-Keller des Weinguts Kloster Eberbach, ungefähr alle 40 Sekunden eine neue Fassprobe im Glas: Steinberg aus verschiedenen Parzellen, vergoren mal im Edelstahl, mal im großen Holz, teils spontan, teils mit Hefezusatz, manches nach der Gärung von der Hefe getrennt und in den Edelstahl umgezogen, manches auf der Feinhefe gelassen, insgesamt wohl 12 Muster in 10 Minuten. Der Steinberg ist immer zitrusfruchtig, immer von Säurezug bestimmt, aber 2022 ist ein schlankes Jahr, da darf die eine oder andere Partie gern über die Machart etwas mehr Schmelz, Kraft oder Unruhe mitbringen.

Die Cuvée der Lage

So macht man Wein, wenn man möglichst wenig machen will. Die Cuvée aus verschiedenen Tanks bringt später das optimale Ergebnis. Einer fehlt noch: ‚Das ist jetzt Steinberg abgestoppt‘ erklärt die ‚Leiterin Kellerwirtschaft‘ des größten Weinguts der Republik. ‚Damit stellen wir nachher alle trockenen Steinberger Weine in der Restsüße ein.‘ Das würde ich jetzt gerne runterschlucken, aber ich habe noch viel vor, also spucke ich den köstlich-süßen Wein auf den Fußboden, wie wir das hier schon die ganze Zeit tun, denn Hessisch hin, Staats her, hier im Keller ist das ein ganz normales Weingut und da spuckt man seine Probeschlucke auf den Fußboden.

Steinberg
Blick durch das Zehntstück zum Rhein

Ein Tank mit süßem Wein wird reichen, um den Ertrag von etlichen Hektar zu veredeln, denn die Zeiten, in denen die trockenen Weine aus der größten Lage des Rheingaus sämtlichst mit einem verkaufsfördernden Zuckerschwänzchen auf die Flasche kamen, sind vorbei. Nicht erst, seit Kathrin Puff den Keller verantwortet, aber seitdem noch einmal deutlicher. Fruchtsüße Spätlesen und Kabis gibt es natürlich weiterhin aus dem Steinberg, der wie die Schlosslagen Vollrads, Reichartshausen und Johannisberg als Ortsteil gilt und deswegen keinen Ort auf dem Etikett trägt. Es ist schlicht Steinberger (als Ortswein) oder Steinberg als Lagenwein. Steinberger versus Johannisberger, das war mal DAS Duell der Rieslingwelt wie FC Bayern gegen Borussia Dortmund. Irgendwann war es dann nur noch wie SV Meppen gegen Viktoria Aschaffenburg, der Lack war ab. Kathrin Puff, seit 2018 an Bord, arbeitet im Team mit Außenbetriebsleiter Maximilian Schäfer und Geschäftsführer Dieter Greiner daran, den guten Namen wieder herzustellen. Und sie macht Fortschritte. Die nächste Etappe hatte Puff mir zuvor im Weinberg erklärt.

Parzellen im Clos

Minimalschnitt im Steinberg
Im Vordergrund die Minimalschnittanlage, im Hintergrund der Goldene Becher

Rund 34 Hektar misst der Steinberg, umfriedet von einer schmucken Mauer, was ans Burgund erinnert. Zum ‚Clos‘ kommt noch der Neue Steinberg, knapp außerhalb der historischen Lage. Bestockt ist beides fast vollständig mit Riesling. Ein paar PiWis sind jetzt gesetzt, um sich mit dem zu beschäftigen, was sich nicht mehr leugnen lässt: dem Klimawandel und dem damit einhergehenden Pilzdruck. Und noch etwas ließ sich nicht länger ignorieren: die VDP-Qualitätspyramide. ‚Es gibt nur einen trockenen Wein aus Großer Lage und das ist das Große Gewächs‘. Für das Kloster und die Schlösser gab es lange Ausnahmen, doch die laufen aus. ‚Da oben, die Kuppe an der Mauer ist das historische Gewann Goldener Becher hier unter uns ist das Zehntstück‘ wies mich Puff in die Mikrogeologie des Steinbergs ein. Ersteres wird ab sofort das Große Gewächs, Letzteres die Erste Lage. Der ganze Rest wird als ortsloser Ortswein, also Steinberger gefüllt. Ein bisschen Ausnahme gibt es also noch, aber die gilt für alle ortslosen Lagen, nicht bloß für den Steinberg.

Steinbergkeller
Das fast unsichtbare Weingut

Im Keller folgt noch ein kleiner Immervoll-Tank mit Marcobrunn GG, ein Grauburgunder aus dem Heppenheimer Centgericht, der vielleicht ein GG wird, Sektgrundwein und ein Experiment im Auftrag der Hochschule Geisenheim, bei dem es um die Erprobung des pflanzlichen önologischen Tannins Estaan als Schwefel-Alternative geht. Danach geht es in einen oberirdischen Glaskasten und wir verkosten fast alles, was an trockenen Spitzen derzeit im Verkauf ist, vor allem die Spätburgunder. Es ist kein Geheimnis mehr, dass die 44-jährige Chef-Önologin, die auch stellvertretende Geschäftsführerin ist, ein besonderes Händchen für diese Rebsorte hat. Eine Stunde Verschnaufpause bleibt mir zum Einchecken in das Gästehaus des Klosters, dann kommt der Programmpunkt, um den es heute eigentlich geht: die Verkostung der dieses Jahr zur Versteigerung anstehenden Raritäten.

Von Mönchen zum Adel zum Staat

Seit 900 Jahren existiert das Weingut. Ursprünglich von Zisterzienser-Mönchen gegründet und betrieben, wurde es 1803 im Zuge der Säkularisierung dem Herzogtum Nassau übereignet. Es war der Herzog, der 1806 zum ersten Mal (Fass-)Wein des Gutes versteigern ließ. Damit hielt diese Tradition auf Eberbach rund einhundert Jahre früher Einzug als irgendwo sonst in Deutschland. Also firmiert die Rheingauer Weinversteigerung als gemeinsame Veranstaltung des VDP und des Staatsweingutes, obwohl dieses selber VDP-Mitglied ist. Die Eberbacher stellen auch mit 12 der 44 Lose einen überdurchschnittlichen Teil der zur Versteigerung ausgerufenen Weine. Eine kleine Zahl von guten Kunden und Multiplikatoren kriegen diese Weine heute im Rahmen eines Abendessens zu kosten. Meine Teilnahme erfolgt auf Einladung des Weingutes.

Dieter Greiner Eberbach
Dieter Greiner schenkt ein

Nach der Begrüßung durch Gutsdirektor Dieter Greiner zieht sich die Gesellschaft ins Bismarck-Zimmer zurück und verkostet die ersten Weine. Greiner ist Herrscher über eine beispiellose Schatzkammer mit über 100 Jahrgängen. Die Nassauer hatten 1866 den Großteil der Weinvorräte beiseite geschafft, bevor das Gut an die Preußen fiel. Seither allerdings ist die Sammlung gepflegt, bemühen sich die Eigentümer – seit 1945 das Land Hessen – um die Bewahrung eines historischen Schatzes. Eine eigene Mitarbeiterin kümmert sich halbtags um das Umkorken historischer Flaschen – ganzjährig mit Ausnahme der Lesezeit.

Ein Museum zum Trinken

1500 Flaschen legt Greiner jedes Jahr hinein in den Fundus, ausschließlich Hochprädikate, GGs und Versteigerungsweine. Eine ähnliche Zahl verlässt das Gewölbe, häufig kostenlos abgegeben im Dienste der Weinkultur. Als das Internationale Riesling Symposium 2017 ein Highlight suchte, war Greiner zur Stelle. Insgesamt neun Steinberger gab es für die Teilnehmer der Tagung: 1943, 1953 und 1964 sowie eine Übersicht aus 1959 vom einfachen Steinberger bis zur Trockenbeerenauslese – für 200 Teilnehmer, die teils extra wegen dieser Weine in ein Flugzeug gestiegen waren. Es war eine Verkostung, die nicht nur mir Freudentränen in die Augen trieb. Die Kosten für diesen Dienst am Kulturgut muss das Weingut regulär erwirtschaften, die Versteigerungserlöse tragen nur einen kleinen Teil dazu bei, denn die besten Flaschen kommen für karitative Zwecke unter den Hammer.

Schatzkammer Eberbach
Das heilige Gewölbe

Mit der Schatzkammer und seiner Großzügigkeit hat Greiner das Image des Weinguts erheblich aufpoliert. Denn Kloster Eberbach war immer auch der Watschenmann des Rheingau. Wenn man sich auf nichts einigen konnte, so verbündete man sich doch gerne im Protest gegen das Staatsweingut. Als in den Nullerjahren der Neubau der Produktionsstätte anstand, sorgten gut organisierte Proteste für erhebliche Mehrkosten.

Schatzkammer erleuchtet
Weil’s so schön ist, noch einmal

Das Gebäude musste überwiegend unterirdisch in die Landschaft integriert werden, denn ein weithin sichtbare Weingut mitten im Weinberg, das ging gar nicht. Als letztes Jahr der Neubau einer Fuhrparkhalle anstand, wiederholte sich das Spiel. Ein Wirtschaftsgebäude in der Kulturlandschaft? Unmöglich! Also steht die Halle jetzt unten an der Bundesstraße auf dem sanierten Gelände einer ehemaligen Müllkippe und hat 1,8 Millionen Euro gekostet, ungefähr doppelt so viel wie ursprünglich budgetiert. Müßig zu erwähnen, dass etliche Familienweingüter weithin sichtbare Funktionsgebäude und Fahrzeughallen in die Weinberge des Rheingau gesetzt haben.

Wenn er könnte, wie er wollte

Kloster Eberbach ist kein richtiges Staatsweingut mehr. Es ist privatisiert. Das klingt erst einmal albern, denn es ist immer noch vollständig in Staatsbesitz. Aber die Hessische Staatsweingüter GmbH Kloster Eberbach übernimmt keine hoheitlichen Aufgaben, bietet keine Spritzschulungen oder Weinbauberatungen an. Andere Staatsweingüter sind Lehr- und Versuchsweingüter und als solches Wissensvermittler in beide Richtungen. Den Winzern bringen sie aktuelle fachliche Praxis nahe, den Dienstherren versorgen sie mit relevanten Informationen: welche Probleme plagen die Winzer und welche Lösungen kann die Politik anbieten. Das entbindet die anderen Staatsweingüter teilweise von der Pflicht schwarze Zahlen zu schreiben. Davon kann Dieter Greiner nur träumen. Er muss Profit liefern – unter erschwerten Bedingungen.

Der erste Aufsichtsratsvorsitzende nach der Privatisierung 2003 war der damalige Ministerpräsident Roland Koch. Eberbach war Chefsache. Koch stattete das Gut ausreichend mit Finanzmitteln aus und ermöglichte den Neubau, was die EU-Kommission später als unerlaubte Beihilfe wertete und eine teilweise Rückzahlung erwirkte. Im Rheingau verspotten sie das Gut seitdem gelegentlich als VEB Steinberg. Doch tatsächlich waren die Strukturen wenig bürokratisch. Zu Kochs Nachfolger im Aufsichtsrat, dem hessischen Finanzminister Thomas Schäfer hatte Greiner einen direkten Draht. Den konnte er anrufen und wichtige Fragen im Gespräch klären. Nach Schäfers Suizid übernahm dessen Nachfolger Michael Boddenberg und Greiner lernte, wasserdichte, schriftliche Beschlussvorlagen zu formulieren. Im Gespräch wird er schmallippig, wenn es um die Unterstützung durch seinen Dienstherren geht.

Zu viel Basis und Naschkram

Ein Geburtsfehler des Betriebs ist sicherlich, dass die Betriebsgebäude und Weinbergslagen im Landesbesitz blieben. Die Weinguts-GmbH zahlt Pacht dafür. Gleichzeitig besteht die Verpflichtung, die staatlichen Lagen allesamt zu bewirtschaften, auch die unrentablen. Das Land hat sich die Pflege der Kulturlandschaft auf die Fahnen geschrieben und dazu gehört auch, Winzern unrentable Flächen abzukaufen und zu erhalten, beispielsweise wenn diese die anstehenden Sanierungen von Trockenmauern nicht stemmen können. Greiner und sein Team müssen es dann richten – und trotzdem profitabel arbeiten. Niemand restauriert so viel Mauerwerk wie das Staatsweingut – nicht mal die Denkmalpfleger des Klosters, das seit 1998 als öffentlich-rechtliche Stiftung firmiert.

Aber nicht alle Kritik ist unberechtigt. Er habe das Gut als Sanierungsfall übernommen berichtet Greiner beim Abendessen und habe in den letzten 20 Jahren einiges bewegen können, auch weil er mittlerweile sein Dream-Team für Keller und Außenbetrieb gefunden hat. Einige Entscheidungen zogen heftige Kritik nach sich, etwa der Deal mit dem Kloster Eberbach großflächig Einzug in die Regale der Metro hielt. Viele sahen damals den Untergang der Rheingauer Weinkultur nahen, reckten eine Hand zum Protest in den Himmel, während sie mit der anderen auf dem Handy den Namen des Einkäufers bei der Metro googelten. Heute stehen etliche Kollegen neben Eberbach bei der Metro im Sortiment. Allerdings ist es für Weingüter wie Weil, Leitz oder Künstler kein lebenswichtiges Listing. Denn im Kern zielt die Kritik auf den Output der Eberbacher.

Wo sind die Verkäufer?

Rund 230 Hektar, knapp 30 davon an der Hessischen Bergstraße, bewirtschaftet das Weingut, nicht alles ist aktuell im Ertrag. 2 Millionen Flaschen beträgt die derzeitige Produktion. Ein bisschen Zukauf unter dem Label Hessische Staatsweinkellerei Eberbach ist dabei, der Begriff Kloster steht nur für Erzeugerabfüllungen zur Verfügung. Und dafür, dass Greiner und sein Team in vielen der besten Lagen des Rheingau nennenswerten Besitz bewirtschaften, kommt hinten zu viel einfache Qualität heraus. Riesling lieblich für 7,96 Euro, Rauenthaler Ortsriesling für 9,51 Euro und immer wieder ‚Riesling Classic‘ für achtfuffzich – aus Lagen, in denen andere Winzer GGs produzieren könnten, wenn das Land sie ihnen verkaufen oder gegen einfachere Lagen tauschen würde. Bisher war das ausgeschlossen, angeblich setzt beim Land jetzt ein Umdenken ein.

23.000 Flaschen GG aus 230 Hektar: die Wiege der Weinkultur wird zu oft unter Wert geschlagen – und stellt sich nicht immer taktisch geschickt an. Die ertragstarke Minimalschnittanlage liegt beispielsweise mitten im Steinberg, direkt am Wanderweg, wo sich im Sommer die Laien dann fragen, ob die Männer vom Kloster nicht genug Rebscheren hatten. Hauptproblem ist aber wohl der Vertrieb: Für GGs und edelsüße Prädikate muss sich ein Weingut seine Kundschaft aktiv suchen. Dazu braucht es Mitarbeiter und die fehlen. Gute Vertriebler kosten viel Geld, bemerkt Greiner und das habe er nicht. Auch weil er 1,5 Millionen Euro im Jahr für den Kapitaldienst aufbringen muss: 85 Prozent Fremdkapitalquote, weil es das Land Hessen so will. Also sitzt bei der Verkostung der Mann von der Sparkasse als Ehrengast am Tisch – und könnte leiser sein. Es sind immer die Männer von der Sparkasse, die das mit dem Spucknapf nicht hinbekommen.

Versteigerungsweine eberbach 2023
Die meisten Weine tragen den Zusatz ‚aus dem Cabinetkeller‘ auf dem Etikett und sind von einer Goldkapsel gekrönt, diese Bezeichnungen lasse ich im Text weg.
Flight 1 Assmannshäuser Höllenberg 2020

Pinot Noir VDP.Auktion.Resérve. hier aus der frisch geöffneten Flasche in der etwas grünen Nase mit Fenchel und viel Unruhe. Braucht Lufz und ist hier etwas detaillierter beschrieben und über mehrere Tage verkostet (240 Flaschen kommen zur Versteigerung)

Frühburgunder Crescencia zeigt viel süße Frucht, etwas Cassis, cremig, aber auch viel Grip. Der Wein hat eine gute Dichte und Tiefe, schrammt aber auch knapp an der Marmelade vorbei – dank einer angenehm kühlen Wasabi-Note, die den Wein auf der Zielgeraden zusammenhält. Sehr gut. (Es gab ein 300 Liter Fass, 180 Flaschen Versteigerung, Rest Schatzkammer)

Flight 2 Assmannshäuser Höllenberg 2013

Frühburgunder Crescencia, Speck und dunkle Früchte, verhaltene Säure und röstiges Holz, eher üppig, aber mit angenehmer Klarheit. (36 Flaschen)

Spätburgunder Mauerwein. Das ist der letzte Mauerwein. Früher wurden die Trauben von an der Trockenmauer stehenden Reben separat ausgebaut, weil die reflektierte Strahlung und gespeicherte Hitze den Reben einen zusätzlichen Boost gibt. Mittlerweile käme eine solche Selektion auf 15 Prozent Alkohol, deswegen werden die Trauben ganz normal mit dem Rest verarbeitet. Dieser Abschied ist indes groß: reife Frucht, beerig, ein Rest Kakao, verführerische Süße, ganz verhaltenes Holz, Laserschwertsäure, dann kommen erste (sehr dezente) Reifearomen. Fantastisch. (24 Flaschen)

Wein 5

Assmannshäuser Höllenberg Spätburgunder GG 2015. Gefällt mir ausgesprochen gut, etwas grüner als der Mauerwein, auch karger, tolle Säure, dunkler im Aroma (Waldboden), mit etwas feinerer und leiserer Frucht. Vermutlich noch größer? (probiert aus der Normalflasche, zur Versteigerung kommt eine 6-Liter-Flasche)

Wein 6
Erntebericht aus Kriegstagen

Ich empfinde es als beruhigend zu wissen, dass die Geschichte der Zwangsarbeit auf dem Weingut unabhängig aufgearbeitet und dem Weingut bescheinigt wurde, seine Zwangsarbeiter unter Einhaltung geltender Regeln behandelt zu haben, was Kriegsgefangenschaft, Zwangsarbeit und das NS-Unrechtsregime in keiner Weine verharmlosen soll. Aber ja, ich musste schmunzeln, als es im Erntebericht hieß: gelesen vom 6. bis 19. Oktober. Anwerbung von Personal schwierig, 9 Frauen und Mädchen sowie 14 Schulkinder standen zur Verfügung, also wurden kurzerhand 41 Landjahrmädel herangezogen. Die Mädel waren fleißig ‚doch es war verstärkte Aufsicht nötig‘. Was der Bericht verschweigt: die körperlich schweren Arbeiten verrichteten Kriegsgefangene. Deutsche Männer waren kaum an diesem Wein beteiligt, Franzosen schon ein paar mehr. Doch um Deutschland vs. Frankreich geht es hier gar nicht, bemerkt Dieter Greiner in seiner Moderation. Auch das Burgund wird selten 80. Es gäbe ein paar Weinberge auf der Welt, die Pinot Noir mit einer Haltbarkeit von hundert Jahren hervorbringen können, ein paar liegen im Burgund, einer liegt in Assmannshausen. Auch wenn dieser Wein erst 80 ist, ich glaube dem Mann jedes Wort.

Höllenberg Spätburgunder 1943
Alles unter 10.000 Euro wär’ ein Schnäppchen…

Assmannshäuser Spätburgunder Natur 1943. In der Nase Kaffee und viel, teils gedörrte Frucht, dann etwas röstig, Bratensauce, Karamell, etwas Unterholz. Am Gaumen dezent balsamisch, viel rohes Fleisch, Espresso, Rauch und Reste von Speck, Wellen über Wellen von Tertiäraromen, der komplette Wahnsinn. Dieser Wein hat alles hinter sich gelassen, was ihn als Jungwein ausgezeichnet haben mag und hat ein zweites Leben in einer neuen Dimension begonnen, die viele Menschen nie betreten dürfen. 100 Punkte für ein Gänsehauterlebnis und Danke für die Gelegenheit. (1 Flasche)

Riesling

Steinberger Wild Ferment 2018. Leicht röstige Nase, etwas Schießpulver und nur dezent fruchtig. Am Gaumen sehr unruhig, aber vielversprechend, ordentliche Säure, cremige Textur, leicht kräutriger, phenolischer Abgang. Im Finish durchaus streng, was einen schönen Spannungsbogen vom cremigen Einstand spannt. Das ist der erste Jahrgang des neuen, im Weinberg vergorenen Rieslings aus dem Steinberg, der mit den Füßen eingemaischt, spontan vergoren und vollständig außerhalb des Kellers produziert wird. Er liegt einige Zeit auf der Hefe, ist minimal geschwefelt und erhält ausreichend Zeit, um auf der Flasche zur Trinkreife zu kommen. Dann kommen Doppelmagnums in die Versteigerung und Magnums in den regulären Verkauf. Das Konzept ist nicht ganz neu. Johannes Hasselbach hat damit im Jahr 2012 angefangen (und hier habe ich darüber geschrieben). Aber im Steinberg und dank der Schatzkammer ergeben sich in ein paar Jahren ganz andere Dimensionen der Vergleichsverkostungen auf der Suche nach dem Wesen des Terroirs. (5 Doppelmagnum)

Rüdesheimer Berg Schlossberg Erstes Gewächs 2010. Einziger Wein des Jahrgangs, der am Gut nicht entsäuert wurde. Sehr üppig, die Frucht changiert zwischen Weingummi und Trockenobst, dann kommt sehr kräftige, aber nicht brennende Säure. Sehr schöner Reifezustand mit schon ersten Kaffeenoten und noch etwas Schießpulver. (Eine 6l-Flasche, probiert aus Eintel)

2013 Steinberger Kabinett Crescentia. In der Nase ziemlich schweißig, aber am Gaumen sehr klar, schöne, reife Frucht, kaum Reifenoten, dann angenehm cremig, ohne dass es wie eine abgestufte Spätlese schmeckt. Großartiger gereifter Kabi! (120 Flaschen)

Nicht von der Farbe täuschen lassen: ‚73 ist taufrisch

1983 Heppenheimer Centgericht Eiswein. Angenehm gereifte Süßwein-Nase, nicht vollkommen Botrytisfrei (?), saftig, ganz ohne Bitternoten oder Schärfe, mit noch viel hellem Strahlen: perfekte Reife für Leute, die Angst vor Reife haben. Fantastisch. (3 Flaschen)

1973 Steinberger Riesling Eiswein Beerenauslese. Es gab in diesem Jahr kein höheres Prädikat als Kabinett, aber die Trauben waren gesund, also blieben welche Hängen für den Eiswein. Was für eine Säure! Die zieht immer noch an den Zähnen. Das hätte mir 30 Jahre lang die Geschmackspapillen weggeätzt, jetzt ist das sehr schön trinkbar, viel Frischer, als die Farbe vermuten lässt, Aprikose, erste Kaffeenoten, fantastisches Spiel. Irgendwann meldet sich aber doch der Magen und sagt, mehr muss jetzt nicht sein. (2 Flaschen)

Greiners Partykeller…

Danach zogen wir um in die festlich hergerichtete Schatzkammer, wo es das vermeintliche Highlight des Abends gab (vermeintlich, weil vielleicht auch die Veranstalter nicht damit gerechnet hatten, wie perfekt sich der 1943er präsentiert). Es ist mir bewusst, dass die Umgebung den Genuss beeinflussen kann. Na und?

Geht nicht besser: die 53er TBA

1953 Steinberger Cabinet Trockenbeerenauslese. Noch einmal – für mich – die absolute Perfektion. Ich hab sie still genossen und die Stimmung der mit Kerzen erleuchteten Schatzkammer aufgesogen. Ich wusste ja, dass noch Kollegen da sind und so empfehle ich die Lektüre von Chez Matze, der sowieso mehr auf die Weine geachtet hat, weil er nicht gleich das ganze Weingut porträtieren wollte. Die Lektüre seiner detaillierten Notizen lohnt sich. (1 Flasche)

Kloster Eberbach ist ein Weingut mit beispielloser Historie, einer starken Marke, besten Lagen und einem guten Team. Die Weinqualität stimmt, erreicht in jüngster Zeit sogar oft höchste Höhen. Es wäre den engagierten Menschen im Betrieb – und dem Rheingau als Wiege des Rieslings insgesamt – zu wünschen, dass der Eigentümer wieder ein bisschen mehr Interesse am Thema findet. Dann könnte aus Deutschlands größtem vielleicht einmal Deutschlands führendes Weingut werden.

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