Letzte Woche war ich im Rheingau. Ich durfte mitmachen bei einer Verkostung, wie sie auch in interessierten Kreisen nur alle paar Jahre stattfindet. Wilhelm Weil hatte eingeladen. Er wollte die Weine seiner Spitzenlage Kiedrich Gräfenberg einmal gründlichst auf ihr Reifepotential untersuchen. Dazu sollten nicht nur Rieslinge aus einem ganzen Jahrhundert antreten, sondern selbige auch immer doppelt, als fruchtsüße Spätlese und als trockene Spitze, also Großes Gewächs (aktuell), Erstes Gewächs (1999 bis 2011) und ‚Cabinet‘ (aus den Jahren 1953, 1949, 1934 und 1921). Als Mitverkoster lud sich Weil Weinjournalisten und -blogger ein, und er wünschte sich schon in der Einladung, dass die Runde seine Weine nicht nur probieren, sondern auch intensiv diskutieren möge.
Der Verkostungsraum des Weinguts liegt dem Gräfenberg gegenüber und bietet einen inspirierenden Blick durch seine Panoramafenster. Weil hat eine gut funktionierende Mannschaft und engagiert bei solchen Gelegenheiten einen Cateringservice auf Sterne-Niveau. Mit anderen Worten: ich brauchte eine Weile, um mich freizuschwimmen, den Respekt abzulegen und den Weinen unbeeindruckt gegenübertreten zu können. Es half, dass wir mit den trockenen Weinen der jüngeren Jahre anfingen. Die kenne ich ziemlich gut.
Wilhelm Weil fasste zu Beginn schnell die äußeren Bedingungen der 15 vor uns stehenden Jahrgänge zusammen. Die professionelle Begleitmappe bot ausführliche Ernteberichte zum Nachlesen. Jetzt ging es erst mal darum Kontext herzustellen, ohne so lange zu reden, bis die Weine warm wären. Auch verzichtete Weil auf jegliche Vorhersage, was wie schmecken würde, oder auf was besonders zu achten sei. Lediglich die Änderung der Ausbaustilistik erläuterte er: bis 2002 entstand die trockene Spitze im Edelstahl, ab 2003 zu ungefähr der Hälfte in weingrünen Holzfässern und seit 2012 komplett im weingrünen Holz. 2004 hat etwas schmeckbares Holz abbekommen.
Kiedrich Gräfenberg 2004 – trockener Riesling in Perfektion
Jener 2004er war für mich auch der beste Wein des Flights. Der erste Schluck war würzig, etwas mollig, machte mich schon sehr glücklich, und war doch Anlass sofort eine Ersatzflasche zu entkorken, denn es war ein untypischer Vertreter. Die zweite Flasche war dann perfekt, zum würzigen Geschmack fügte sich eine strahlende Säure. Ich kann verstehen, wenn jemand diesen Wein nicht mag, dass er schlicht großartig ist, sollte man aber auch anerkennen können, wenn er einem geschmacklich nicht zusagt. Für mich ist das ein perfekter trockener Riesling. Der 2012er Gräfenberg trinkt sich im Moment traumhaft. Ihm fehlt noch vieles, was er mit der Reife bekommen wird, aber was er jetzt zeigt, ist schon extrem gut. Der 2013er hingegen zeigt unendliches Potential, ist vielleicht der beste je gefüllte trockene Gräfenberg, bietet aber im Moment auch noch dropsige Jungweinaromen, die in einem solchen Feld von Weinen fast schon albern wirken. Das ist das Wertvolle an so einer Probe: der Kontext. Weils Gräfenberg bekommt in der Reife eine würzig-rauchige Note, die an Maillard-Aromen erinnert, mich an Holzfassaubau denken lässt. Das nimmt mit der Zeit zu und war im 1999er, der vollständig im Edelstahl entstand, am ausgeprägtesten. Später sollten mir diese Noten sogar noch im 1921er begegnen. Nicht jeder gereifte Gräfenberg zeigt diese Aromen in gleichem Maße, im 2002er traten sie etwas zurück, ebenfalls im 2006er. Und wann sie kommen ist ungewiss: im 2007er deuten sie sich erst an, obwohl sie im 2008er schon voll da sind. Eine Faustregel, wann der Gräfenberg zum reifen Gräfenberg mutiert, kann ich also nicht anbieten, nur die Versicherung, dass es sich lohnt darauf zu warten. 2007 wird vielleicht noch ein ganz großer, 2005 ist etwas zu mollig, 2001 ist ‚nur’ sehr gut (unsanfte Landung eines vermeintlichen Jahrhundertjahrgangs). 2000, 2003, 2006 sind für die problematischen Rahmenbedingungen mehr als ordentlich, 2002 schmeckt jetzt zu süß. Was Säure angeht, war Weil schon immer mutig, in den kommenden Jahren soll auch der Restzucker nach unten. Der 2014er Gräfenberg GG ist noch nicht final cuvetiert, geht aber tendenziell gegen 4 Gramm Restzucker, statt der sonst üblichen 6 bis 7 Gramm. Aber egal, wie gut oder schwach die einzelnen gewesen sein mögen – alle 15 in einer Reihe waren das Erlebnis.
Verwässerte Botrytis – das (fast) schwarze Schaf
Im nächsten Flight kamen die jüngeren Spätlesen ins Glas und Wilhelm Weil konnte nicht umhin, deutliche Worte zur Einleitung zu sprechen. Es ging um den 2000er. Dieser hätte ob des Witterungsverlaufs eine ‚verwässerte Botrytis‘ mit in den Keller gebracht, ein singuläres Ereignis in der Geschichte des Weinguts. Es hätte damals nichts dagegen gesprochen, daraus einen Wein zu machen. 15 Jahre später allerdings sei klar, dass das nicht den Ansprüchen des Hauses genüge. Nun denn, es könnten nicht alle Kinder gleich hübsch sein und er habe nicht vor, den Wein ‚unter den Teppich zu kehren‘ – selbst wenn er wisse, dass das ein Problemkind sei. Recht hatte er. Nun habe ich mal ‚verwässerte Botrytis‘ getrunken. Ist nicht schlimm – aber auch nicht schön: Sherrynote, ‚interessante‘ Aromen, trinkbar. Mir als Mosel-Liebhaber sind etliche der süßen Spätlesen der jüngeren Jahre zu üppig. Sie zeigen Auslese-Charakter und leiden im Vergleich zu den Moselanern an Säuremangel. Weil steuert mittlerweile gegen, ausgerechnet 2009 und 2011 waren wundervoll, 2009 war der Liebling der Mehrheit. Der 2013er zeigt eine derart straffe Säure, dass es in der Reife vielleicht nach hinten losgeht. Wichtiger aber waren Parallelen zwischen trockenem und süßem Wein aus den gleichen Jahren, die sich abzeichneten, sowie die Erkenntnis, dass was dem trockenen hilft, dem süßen schaden kann und umgekehrt. Der leichte Gerb- und Bitterstoff, der den trockenen 2008er so apart macht, setzt der Spätlese zu. Sie war einer der schwächsten Weine des Flights, wenngleich das eine Momentaufnahme ist.
Wir probierten von alt nach jung, was ich nicht erwartet hatte. Hier war es absolut sinnvoll: Der Berg setzt sich mit zunehmendem Alter durch. Die Jungweinaromen sind mir geläufig. So fingen wir quasi mit der Maximaldosis Gräfenberg an, die dann schrittweise universellen Aromen jungen Rieslings Platz machten. Für mich brachte das Erkenntnisse: Zwar waren auch hier die vermeintlich schwächeren Jahrgänge die tatsächlich schwächeren Jahrgänge, zu sehen wie sich der Berg aber auch in ihnen ausdrückt ist diese besondere Dimension der Erkenntnis, die für zusätzlichen Spaß im Glas sorgt – zugegeben nur für Freaks. Der 2003er und 2006er Gräfenberg sind sehr gute Weine – mit die besten trockenen dieser Jahrgänge, die ich getrunken habe. Sie transportieren den Berg, ihr Mangel an Säure lässt sie aber gegen 2004 oder 2007 verblassen. In meinem Lieblingsjahrgang 2007 gibt es wiederum etliche GGs, die den Gräfenberg in seiner jetzigen Form hinter sich lassen. Im Kontext der Probe mit dem Wissen um die Entwicklung gewann ich aber Gewissheit, dass das in zwei Jahren schon ganz anders aussehen wird. Wer nun eine einzelne Flasche Gräfenberg 2007 für 35 Euro erworben hat, jetzt aufmacht und nur ‚ordentlichen‘ Genuss erfährt, den wird das kaum trösten. Wein immer und überall auf die eine Flasche, den Preis und das singuläre Konsumerlebnis zu reduzieren wird ihm aber eben auch nicht gerecht. Was Wein noch sein kann, dass lernt man am besten im Kontext. Dazu bedarf es nicht immer 30 Flaschen Gräfenbergs, aber ab und zu mal einiger Weine gleicher Herkunft aus unterschiedlichen Jahrgängen parallel in offener Verkostung.
Und dann waren da ja noch acht weitere Weine: Es waren die alten Jahrgänge, die aus dem Ereignis ein Großereignis machten. Und weil das ein schöner Cliffhanger ist, endet hier Teil 1. Das ‚alte Zeugs‘ gibt’s dann in eine paar Tagen auf diesem Blog.