Grenzerfahrung

Am Samstag kredenzte mir ein Freund einen Wein, der mir meine Grenzen als Weinkritiker aufzeigte. Er wurde ‚blind’ gereicht, also kommentarlos im Glas, ohne dass ich einen Hinweis erhielt, um was es sich handelte. Da er das Dessert begleitete, war aus dem Kontext anzunehmen, es würde ein süßer Riesling sein. Der Duft, der dem Glas entströmte war erst mal übel. Ein ‚Spontistinker’ aus dem Lehrbuch – also jener an den Weinfehler ‚Böckser’ anlehnende Schwefelwasserstoffgeruch, der an Stinkbomben aus Kindertagen erinnert und bei spontanvergorenen Weinen vorkommen kann. Darunter lag irgendwo ein bisschen Frucht, kaum wahrnehmbar, denn dieser Stinker ließ sich nicht so ohne weiteres wegschwenken.

Am Gaumen war der Wein als Riesling erkennbar, als Riesenriesling sogar: Alle Früchte dieser Erde tauchten auf, was grob übertrieben ist, aber der Begeisterung geschuldet, die nach Superlativen zum Ausdruck sucht. So etwas muss Kurt Tucholsky im Mund gehabt haben, als ihm der Satz einfiel: „Schade, dass man Wein nicht streicheln kann“. Aromatisch ergänzt wurde das Feuerwerk von einer dezenten Würze, die vielleicht von einem Anteil edelfauler Trauben stammte, einer spürbaren Mineralik und einem gigantisch guten Spiel aus Süße und Säure. Die Textur war dick, ein Kau-Wein. Der Abgang dauerte und dauerte.

Mein Tipp war, es handele sich um eine ‚dicke fette Auslese’, was in meinem Sprachgebrauch eine Auslese meint, die mit irgendwelchen Sternen, kurzen oder langen Goldkapseln aufgewertet wurde (das Thema hatten wir ja schon mal hier). Was ich als Jahrgang tippte, erinnere ich nicht mehr; ich weiß nur noch, dass ich deutlich daneben lag.

Es war die Zeltinger Sonnenuhr Riesling Spätlese von Markus Molitor aus dem Jahr 2005 und da begann mein Dilemma. Für eine Spätlese war der Wein viel viel viel zu dick. Ich stelle mir vor, ich ließe so einen Wein zehn Jahre reifen, um ihn dann zu einem gebratenen Zander mit irgendwas tomatigem zu trinken. Das wäre ein böser Reinfall. Mich erinnerte die Situation an einen Deutschlehrer, der einen tollen Aufsatz eines Schülers liest, der die Aufgabenstellung  falsch verstanden hat. Eigentlich Thema verfehlt, Note 6 – aber Aufgrund starker Ausdrucksqualität eine 4- gerettet? Und dann war da noch die Nase – muss ein solcher Stinker zu Punktabzug führen?

Zum Glück bin ich weder Lehrer noch Weinkritiker. Da durfte ich reuelose 95 Punkte geben.

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