Gault & Millau, oder: Wenn Wein Arbeit wird

Die Mehr-als-nur-Enthusiasten und Facebookweinverfolger unter meinen Lesern wissen es schon: Ich gehöre jetzt zur Punktemeute. Deswegen war es hier einen Monat sehr ruhig. Für die Ausgabe 2018 des Gault & Millau Weinguide verkoste (und beschreibe) ich die Weine des Anbaugebietes Nahe und Teile der Ahr. 

Ich bin von Menschen aller Altersstufen und medialer Gattungen beglückwünscht worden zu meiner neuen Betätigung. Die Übertragung dieser Aufgabe ist mit Prestige verbunden, selbst für diejenigen, die den nahen Tod der Führer voraussagen. Zu letzteren gehöre ironischerweise auch ich, und es zu leugnen ist zwecklos, das Internet vergisst nicht. Aber: Ich war nie der Meinung, dass Weinführer an sich aussterben. Ich habe lediglich die Überlebenschancen gedruckter Weinführer mit Null bewertet. Die Zukunft gehört den Apps.

Sonst hätte ich mich auch nicht beworben. Ich tat das, als ich hörte, dass der GM eine neue Chefredakteurin bekommen hat. Mit Britta Wiegelmann hatte ich schon einmal in anderer Sache zu tun und hatte den Eindruck gewonnen, dass ihr und mein Zugang zum Thema Wein sehr ähnlich sind. Kurze Zeit später verabschiedete sich ein Großteil der bisherigen Verkostermannschaft und es wurden Plätze im Team frei. So kam es, dass ich direkt die Verantwortung für die Nahe übernahm. Mir gefiel das sehr, denn einerseits kenne ich die Weine des Gebietes ganz gut, weiß um die Gebietstypizität, andererseits kenne ich die Winzer nur sehr flüchtig, bin mit keinem per Du.

1000 Weine in vier Wochen

Also verkostete ich in den letzten Wochen jede Menge Wein und – es tat mir in der Seele weh – entsorgte so viel Wein in meinem Ausguss, wie ich durchschnittlich in einem Zeitraum von zehn Jahren trinke. Kann man überhaupt so viel Wein in so kurzer Zeit verkosten, werde ich dieser Tage oft gefragt. Man kann. An einem normalen Arbeitstag verkostete ich drei bis vier Kollektionen von je maximal 12 Flaschen. Das lässt 2 Stunden pro Kollektion. Der wahre Zeitfresser ist aber nicht das Verkosten, sondern das Schreiben. Das liegt vor allem daran, dass fast jeder Winzer von der Nahe im Schnitt vier Gutsweine schickt: Riesling, Weiß- und Grauburgunder sowie irgendwas aus dem Randspektrum: Scheurebe, Müller-Thurgau, Silvaner, Spätburgunder. Gehen Sie einmal in ein Restaurant, nehmen Sie eine Freundin mit, bestellen Sie den offenen Grauburgunder oder was immer die Schoppenkarte hergibt und dann versuchen Sie mit Ihrer Begleitung fünf Minuten über den Wein zu reden. Wenn der Gutswein als Schoppen funktioniert, haben Sie sich nach zwei Minuten nichts mehr darüber zu erzählen. Der Wein wird sich mit Luft auch nicht wesentlich verändern. So kommt es, dass man für das erste Drittel der meisten Kollektionen kaum 10 Minuten braucht – Ausnahmen bestätigen die Regel. Was danach kommt, kann schon mal dauern. Reserve-Weine aus dem kleinen Holz habe ich nach vier und 24 Stunden ein zweites und drittes Mal probiert. Die Zwischenzeit gilt es dann für Schreiben und Logistik zu nutzen.

Fokus auf das Gelungene

Wie soll er nun werden, der neue GM? Das darf ich nicht verraten, aber ich könnte ja noch einmal meinen Zugang zu Wein erläutern. Wer dann daraus Schlüsse ziehen möchte, den will ich nicht hindern. Ich hadere hier gelegentlich öffentlich mit der Frage, was einen guten Weinkritiker ausmacht und was einen guten Verkoster und warum das zwei verschiedene Themen sein können und wieso gute Kritiker eventuell gar keine so guten Verkoster sein müssen. Sie können das hier ziemlich ausführlich nachlesen, oder sie nehmen mein stark verkürztes Fazit: ein guter Weinkritiker schafft Transparenz bezüglich seiner Wertungen. Dafür muss er schreiben, nicht nur über das Weingut, sondern auch über einzelne Weine und manchmal braucht man dafür ein bisschen Platz für mehr Text. Punkte alleine reichen niemals.

Außerdem gehört zu meinem Zugang zu Wein eine große Abneigung gegenüber Verrissen. Nicht, dass ich nicht gelegentlich einen Wein von ganzem Herzen bescheiden finde. Für die öffentliche Hinrichtung fehlt mir aber der Anspruch auf Deutungshoheit. Wenn ich Weine schlecht finde, lasse ich sie einfach unerwähnt. Das hat auch ganz wesentlich mit meiner Grundeinstellung Ihnen, meinen Lesern gegenüber zu tun. Ich halte Sie nicht nur für mündig. Wer sich so sehr für Wein interessiert, dass er dieses Blog liest, der muss nicht vor schlechtem Wein beschützt werden. Plörre vermeiden – das schaffen Sie auch ohne mich! Und wenn Sie beim Wort ‚Plörre‘ kurz gezuckt haben, sind wir auch schon beim letzten Aspekt angekommen. ‚Plörre‘ klingt nach Hinrichtung – auch nicht so mein Ding. Ich sitze nicht über Weine zu Gericht, und erst recht nicht über Winzer.

Gault & Millau Weinguide kommt im November

Die Weine sind verkostet, die Texte getippt, und zur Hälfte schon von der Chefredaktion abgenickt – bisher musste ich mich nicht verbiegen. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, Teil eines neu strukturierten Weinführers geworden zu sein, den ich mir selber kaufen würde, stünden mir vertraglich nicht zwei Belegexemplare zu.

Ich werde diesen neuen Aspekt meines Weinlebens in dieses Blog integrieren und das ist keine Drohung. Hier wird es jetzt nicht bräsig und staatstragend. Hier werden nur die Geschichten erzählt, für die in einem Weinführer dann doch nicht genügend Platz ist. Aber damit beginne ich frühestens, wenn der Führer im November auf den Markt kommt. Bis dahin hole ich meine Chronistenpflichten nach, denn es ist noch einiges außerhalb der GM-Welt passiert, was hier aufgearbeitet sein will. Da ist zum Beispiel ein kleines Interview, dass ich dem DWI gegeben habe und das in einer Reihe mit weiteren Interviews mit interessanten Menschen der digitalen Weinwelt steht. Das finden Sie hier. Und darin hatte ich angekündigt, der erste selbst gekaufte Wein nach meiner GM-Arbeit würde ein Siegelsberg GG sein. Das ist mittlerweile vertilgt.

Bodmann InterviewAchim Ritter und Edler von Oetinger, Erbach Siegelsberg, Riesling Großes Gewächs, 2015, Rheingau. In der Nase gelbfruchtig, mit zunehmender Luft wird die Aprikose immer reifer, dazu mürber Apfel und blonder Tabak. Am Gaumen vor allem saftig, mit Hineinhorchen stellt man fest, das ist gar nicht mal so wenig Alkohol, Säure, Extrakt und Phenolik. Der könnte also alles sein, fett, sauer, sperrig, aber dankenswerterweise hat er sich schon nach einem Jahr Flaschenreife für saftig entschieden. Gute Entscheidung! Lang ist er auch und komplex und und und, aber egal, das ist hier schließlich nicht der Gault & Millau Weinguide. Saftig muss reichen! Trinken!

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